Stoßtrupps der Regierung

Die Soziologin Maristella Svampa über die Zähmung des sozialen Protests in Argentinien und den neuen alten Peronismus des Präsidenten Néstor Kirchner

Ende 2001 traf die Argentinier eine tiefe soziale Krise. Vehemente Proteste konfrontierten die politische Elite mit dem Ruf: “Alle sollen abhauen – kein einziger soll bleiben!”. Heute stößt der Kurs der Regierung von Präsident Néstor Kirchner, der seit Mai 2003 im Amt ist, auf viel Akzeptanz. Maristella Svampa analysiert diesen Wandel, der sich in wenigen Jahren vollzogen hat. In ihren Büchern hat sich die argentinische Soziologin – sie lehrt an der Universidad Nacional de General Sarmiento in Buenos Aires und der Pariser Sorbonne – unter anderem mit den Piqueteros, den Protagonisten der argentinischen Arbeitslosenbewegungen, beschäftigt.

FREITAG: Wie erklären Sie sich den Stimmungsumschwung, der Ihr Land unter der jetzigen Regierung erfasst hat?
MARISTELLA SVAMPA: Alle großen Krisen rufen in den Menschen ambivalente Wünsche hervor: Man verlangt nach Solidarität, nach komplexen Formen der Organisation von unten – aber auch nach Ordnung und Normalität. Die Krise von 2001 öffnete Möglichkeiten für neue Akteure, wie Nachbarschaftsversammlungen und Arbeitslosenorganisationen. Doch gelang es diesen Bewegungen nicht, eine politische und soziale Alternative zu entwickeln. Sie propagierten eine anti-institutionelle und direkt-demokratische Politik und dachten nicht darüber nach, wie denn eine Verbindung zum System der Institutionen aussehen könnte. So verloren die Forderungen nach Solidarität gegen Ende 2002 an Kraft, als sich keine Alternative auftat, die sie hätte kanalisieren können. Der Aufstieg Kirchners, der mit dem Wahlspruch antrat: “Für ein ernsthaftes Land, für ein normales Land”, war insofern eingebettet in das klar artikulierte Verlangen nach Normalität. Das heißt, der Ball landete auf der anderen Seite des Spielfelds, auf der Seite des Institutionensystems, verkörpert durch Kirchner und die progressivste Strömung in der Peronistischen Partei.

Was änderte sich dadurch?
Die Regierung nahm sich sofort einiger Forderungen nach politischer Erneuerung an: Sie versuchte, wirtschaftspolitische Spielräume gegenüber multilateralen Institutionen zurück zu gewinnen. Sie entmachtete den Obersten Gerichtshof – ein Symbol aus der Zeit des ehemaligen Präsidenten Carlos Menem. Und sie verurteilte die Menschenrechtsverbrechen, zu denen es während der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 gekommen war. Was als gemeinsamer Nenner der Proteste von 2001/02 galt – die Kritik am Neoliberalismus -, wurde zum offiziellen Diskurs.

Die “gefährlichen Klassen”

Welche Möglichkeiten hat denn derzeit eine argentinische Regierung, um sich vom neoliberalen Kurs abzuwenden?
Viele hatten 2001 begriffen: das neoliberale Modell erzeugt ein hohes und nicht hinnehmbares Maß an sozialer Exklusion. Ab 2003 begann man jedoch zusehends, diese Ausgrenzung als natürliches Phänomen zu deuten. Was nunmehr nicht mehr tolerierbar schien, das war die Präsenz der Exkludierten auf den Straßen.

So gibt es heute jenseits der anti-neoliberalen Rhetorik in Regierung und Bevölkerung eine zunehmende Naturalisierung sozialer Ungleichheit. Damit wächst die Gefahr, ein Modell fortzuschreiben, das für sozialen Ausschluss sorgt. Die Botschaft der Regierung lautet: Bei einer zielgerichteten Politik der Fürsorge für die sozial Ausgegrenzten sollen die den Platz akzeptieren, den man ihnen im System zuweist. Damit ist auch klar: In Argentinien haben politische Reformen, wie sie die Protestbewegung von 2001/2002 gefordert hatte, nicht stattgefunden. Es gibt keine Erneuerung der politischen Institutionen, um auch Formen der direkten Demokratie einzubeziehen. Wir haben stattdessen eine delegierte Demokratie und ein personalistisches Herrschaftsmodell, das die Entscheidungsmacht beim Präsidenten konzentriert. Aber gerade eine Reform des politischen Systems wäre notwendig, um nach Wegen zu suchen, wie sich ein peripheres Land über die Grenzen, die ihm der Neoliberalismus zieht, hinwegsetzen könnte. Mit anderen Worten: Man kann der Regierung Kirchner kaum bescheinigen, dass sie eine wirklich post-neoliberale Agenda entwickelt hat.

Um so weniger ist zu erklären, dass man in Buenos Aires die “Piquete” – die Straßenblockade – als Form des sozialen Protestes kaum noch sieht.
Im Oktober 2003 starteten Regierung und Medien eine Kampagne, um die Piqueteros zu dämonisieren, was durch Ungeschicklichkeiten der Urheber dieser Proteste begünstigt wurde. Sie vervielfachten Straßensperren ausgerechnet zu einer Zeit, da der Wunsch nach Rückkehr zur Normalität schon stark war. Also reichten wenige Monate einer intensiven Kampagne, um einen Akteur zu delegitimieren, der ohnehin nie übermäßig akzeptiert war. Nur für eine kurze Zeit 2001/02 galten Piqueteros als Symbol des Kampfes gegen den Neoliberalismus. Wenig später nahm man ihre Organisationen als “perversen Effekt” des Neoliberalismus wahr, warf ihnen Klientelismus und Manipulation vor. Was die Arbeitslosen einklagten, nämlich das Recht auf Arbeit, auf ein würdiges Leben, wurde entstellt. Die Regierung wollte damit eine Bewegung disziplinieren, die öffentlich starke Präsenz zeigte, und ihr die Fähigkeit nehmen, politischen Druck auszuüben.

Man hat rassistische und auf Klassenunterschieden basierende Vorurteile besonders der Mittelschicht genutzt, um Bewegungen verurteilen zu können, die den nicht-resignierten Teil der sozial Ausgegrenzten verkörperten. In kürzester Zeit gab es einen allgemeinen Konsens, der sich gegen die Piqueteros richtete.

Gab es auch Repressionen?
Wenn die Regierung erklärt, sie verteidige die Menschenrechte, bezieht sich das auf die Vergangenheit, nicht die Gegenwart. Sie hat sich dadurch hervorgetan, die strafrechtliche Verfolgung des sozialen Protests voranzutreiben und die Piqueteros zu stigmatisieren. Davon sind auch einige Gewerkschaftsgruppen betroffen. Es gab keine groß angelegte Repression, aber doch einzelne repressive Maßnahmen. Hier sind zwei Schauplätze entscheidend: Einmal Buenos Aires und dessen Vorstädte. Man kann von einer Art Grenze sprechen, sie trennt die Peripherie als Domizil der “gefährlichen Klassen” von der Stadt Buenos Aires, dem Symbols des Fortschrittes und der Forderung nach Normalität. Der zweite Schauplatz – das sind die Petroleum-Zonen. Auf fast schon groteske Weise zeigt sich in diesen Export-Enklaven die starke Asymmetrie zwischen schwachen lokalen Akteuren und mächtigen multinationalen Unternehmen, die nach den Privatisierungen entstanden sind und von den Provinzregierungen und vom Nationalstaat kaum kontrolliert werden. Darin zeigt sich: Die neoliberale Globalisierung wurde in Argentinien nicht aufgehalten – was die Ausbeutung natürlicher Ressourcen wie Öl, Gas und Minen betrifft, ist das Gegenteil der Fall.

Weshalb hat sich der größte Teil der Arbeitslosenbewegung heute in so genannte “piqueteros kirchneristas” verwandelt?
Weil diese Bewegung anti-neoliberal, aber nicht antikapitalistisch ausgerichtet ist. Sie bedient eine Tradition, die sich paradigmatisch im Peronismus der fünfziger und in einigen Strömungen der siebziger Jahre ausdrückte. In den Neunzigern wurde sie völlig marginalisiert. Kirchner trat an, um dieses Modell aus der Versenkung zu holen, das – schematisch dargestellt – auf der Artikulation zwischen Führer, Massenbewegung und einem national-popularen Staat basiert. Gemäß der argentinischen Tradition bedeutete dies immer, dass sich die Massen einem Führer völlig unterordnen – Kirchner macht da keine Ausnahme. In dieser Wiederbelebung steckt viel Illusion, getragen vom progressiven Wind, der durch Lateinamerika weht, seit sich mit Chávez, Lula, Morales und so weiter ein Pol von Mitte-Links-Regierungen gebildet hat. Man darf nicht vergessen, dass in einer vergangenen Epoche der Populismus in Lateinamerika eine große sozial integrative Fähigkeit besaß. Argentinien hatte unter Juan Perón das höchste Niveau des “lateinamerikanischen Sozialstaats” erreicht. Die Versuchung ist groß, dieses Modell zu reanimieren.

Die Autonomie ganz verloren

Was liegen die Unterschiede zwischen Chávez, Morales und Kirchner in ihrer Politik gegenüber den sozialen Bewegungen?
In Bolivien haben sich diese Bewegungen in einer politischen Alternative zusammengefunden. Dies ist in keinem anderen Land Lateinamerikas passiert, und wenn doch – wie im Falle Ekuadors, wo man den ehemaligen Präsidenten Lucio Gutiérrez unterstützte – ist es komplett gescheitert, doch in der Amtsführung von Evo Morales spielen soziale Bewegungen eine zentrale Rolle. Auch in Venezuela sind sie eng an Hugo Chávez gebunden – die Arbeit in den Basisorganisationen zielt darauf, Macht zu akkumulieren und die Akteure zu stärken, vor allem seit sie Chávez gegen Putschversuche schützten. In Argentinien ist das anders. Die Bewegungen entwickelten sich in der Distanz zum Peronismus und stellten in Frage, dass sich der Peronismus mit dem Neoliberalismus identifizierte. Mit Kirchner wird nun wieder an Traditionen des argentinischen Populismus angeknüpft und die Auffassung vertreten, soziale Bewegungen könnten nicht autonom sein, sondern müssten vom Staat orientiert und kontrolliert werden. Das läuft darauf hinaus, die eine oder andere Regierungspolitik zu unterstützen, aber nicht mehr aus eigener Initiative zu handeln. Manche sagen, es handele sich um die Stoßtrupps der Regierung. Sie haben ihre Autonomie komplett verloren.

Dass Gespräch führt Margot Geiger


Die Wirtschaften Brasiliens und Argentiniens in Vergleich (Stand 2005)